DAS KÖNNTE DIR AUCH GEFALLEN

Wie der Netflix Vorschlagsalgorithmus uns das Leben erleichtert

Es ist soweit! Wir haben Folge für Folge mitgefiebert und im Höhepunkt bildet sich das tragische Schicksal unseres Helden!

Ob als Cliffhanger oder endgültiges Ende, die meisten Serien enden irgendwann. Aber mit unserer Lieblingsserie endet nicht gleich unser Abo bei Prime, Netflix, Apple TV+ oder Disney+ (um nur ein paar wenige Streaming Anbieter zu nennen).

Ich habe mich in diesem Blog damit auseinandergesetzt, wie Netflix es eigentlich schafft, uns jedes mal noch eine weitere Serie vorzuschlagen. Auch wenn wir erschüttert, erfreut oder erbosst über das Staffelfinale sind – vor allem, da wir ein Jahr auf die nächste Staffel warten werden – leitet uns Netflix noch während der laufenden Credits auf die erste Folge einer komplett neuen Serie. Damit wir direkt weiterschauen können.

Das Vorschlagssystem von Netflix funktioniert richtet sich dabei gezielt auf deinen individuellen Seriengeschmack aus. Woher dieser Vorschlag kommt, und weshalb wir trotz künstlicher Intelligenz noch nicht auf den Menschen verzichten können, das möchte ich hier erklären.


“Am besten suchst du drei Filme heraus, welche du bereits selber schon kennst. So hast du wenigstens die Gewissheit, dass die Filme alle gut sind.”?

Das ist laut FlirtUniversity der ultimative Tipp für einen gemütlichen Abend zu Hause. Ist das der richtige Weg, das perfekte Date zu gestalten? Welche psychologischen Mechanismen hinter diesem Tipp stehen, damit beschäftigt sich die Medienpsychologie. Hier wird erklärt wie das Vorschlagssystem von Netflix funktioniert und wieso der falsche Film nicht unser Date zerstören wird.

Früher schaltete man stundenlang von einem Fernsehprogramm zum nächsten und das Programm war bereits Wochen vorher fest vorgeschrieben. Video-On-Demand-Anbieter wie Amazon Prime und Netflix haben unsere Mediennutzung revolutioniert, denn nun können wir uns tausende Programme, zu jeder Zeit und an jedem Ort anschauen. Netflix hielt Anfang des Jahres 2018 weltweit Rechte über 13.612 verschiedene Titel in 200 Ländern (Cordcutting, 2016). Bei dieser Riesenauswahl kann die Suche des perfekten Unterhaltungsprogrammes schon mal zur nervenaufreibenden Tortur werden.

Grundsätzlich zeigt sich eigentlich, dass wir mit zunehmender Informationslage auch eine bessere Entscheidung treffen können – das gilt jedoch nur bis zu einem gewissen Punkt. Sobald eine bestimmte Informationsmenge überschritten wird, sind wir überfordert und scheitern kläglich an einer zufriedenstellenden Entscheidung (Eppler & Mengis, 2010).


Auswahl


Selektives Auswählen – Reduktion der kognitiven Dissonanz

Wenn wir zu viele Titel zur Auswahl haben, die uns nicht auf Anhieb gefallen, dann führt das zu psychologischem Unwohlsein und Unzufriedenheit (Bock et. al 2010, Beam, M. A. (2014)). Manche Psychologen nennen dieses schlechte Gefühl auch kognitive Dissonanz. Wenn so eine Situation eintrifft, dann greifen wir zu verschiedene Strategien, um das ungute Gefühl wieder los zu werden und die interne Konsistenz wiederherzustellen:

Einerseits suchen wir uns Informationen, die die anderen Alternativen schlecht machen: „Diese Kömodien sind sowieso alle gleich“. Andererseits suchen wir gezielt nach Informationen, welche mit unserer eigenen Meinung übereinstimmen und diese verstärken: „Der Action Thriller hat 5 von 5 Sternen!“.

Laut dem Psychologen Leon Festinger ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass wir die Filme und Serien überspringen, die uns nicht auf Anhieb zusagen. Beispielsweise, wenn ein Schauspieler darin auftritt, welcher wir nicht mögen.Wir machen uns dann nicht einmal die Mühe, uns näher mit dem Inhalt des Filmes zu beschäftigen.

Denn wir würden uns unwohl fühlen, wenn unsere tief geglaubte Abneigung angefochten wird. Beispielsweise, wenn uns die Geschichte plötzlich doch gefällt und wir durchweg lachen. Unsere Überzeugungen und Meinungen sind Teil unser selbst, und wir fühlen uns gekränkt, wenn wir diese überdenken müssen. Deshalb ignorieren wir alle Informationen, die unsere innere Harmonie stören könnten (Festinger, 1962).




Der Netflix Algorithmus

Wenn uns aber nur Informationen präsentiert werden, welche uns gefallen, dann können wir schneller und besser entscheiden. Diese Erleichterung bei der Entscheidungsfindung gefällt uns so sehr, dass wir uns zurücklehnen und unseren Erfolg genießen (Beam und Kosicki (2014)). Eine personalisierte Präsentation von Informationen macht die Kunden nicht nur glücklicher, sondern wir schauen insgesamt sogar mehr. Manche Forscher befürchten sogar, dass ein perfekter Algorithmus uns zu exzessivem Serienkonsum verleiten könnte (Rajibu, H. (2018)).

Netflix möchte aber natürlich, dass wir schnell einen Titel finden, der uns gefällt. Laut der Marktforschung hat ein Zuschauer im Durchschnitt eine Aufmerksamtkeitsspanne von 60 bis 90 Sekunden bei der Titelauswahl. Natürlich möchten die Video-On-Demand-Anbieter, dass wir innerhalb dieser kurzen Zeit den perfekten Titel finden, denn ein frustrierter Kunde wechselt den Anbieter oder sucht sich eine andere Beschäftigung (Hallinan, B. & Striphas, T. (2016)).

Um dir als guter Freund mit Rat über die neusten Serien zur Seite zu stehen, gibt Netflix pro Jahr mehrere Millionen Dollar für die Entwicklung intelligenter Algorithmen aus. Ganz einfach gesagt ist ein Algorithmus eine systematische Vorgehensweise oder logische Regel, die zur Lösung eines vorliegenden Problemes führt. Algorithmen begegnen uns im täglich Leben zum Beispiel im Navigationsgerät, dass den kürzesten Weg berechnet, in der Satzbaukontrolle in unseren Word Dokumenten oder bei der Online Partner Suche (Czernik, 2016).


Einer der Algorithmen die uns tagtäglich begegnen: Die Gesichtserkennung der Kamera

Algorithmus

Ein Algorithmus funktioniert ähnlich wie eine mathematische Gleichung, denn je nachdem welche Zahlen man vorne einsetzt, bekommt man am Ende ein anderes Ergebnis. Die Grundidee der Algorithmen ist es, dass sie uns den Alltag erleichtern und uns helfen uns schneller und besser zurechtzufinden. So auch, wenn wir uns nicht entscheiden können, was wir anschauen wollen.

Durch das computergestützte Vorschlagssystem konnte Netflix bisher so viele Kunden von der Kündigung abhalten, dass sie jährlich über 1 Milliarde US Dollar (ca. 827 Mil. €) zusätzlichen Umsatz generieren. Im Jahr 2006 startete Netflix sogar einen öffentlichen Wettbewerb mit einem Preisgeld von 1 Millionen US Dollar (ca. 827 tsd. €). Ziel war es, den bestmöglichen Algorithmus zu entwickeln, der die Bewertung von Filmen vorhersagt (Hallinan, B. & Striphas, T. (2016)).




Welche Daten nutzt der Algorithmus?

Manchmal verlassen wir uns auch auf den Rat unserer Freunde, dann hört man sowas wie: „Wenn dir Breaking Bad gut gefallen hat, dann solltest du unbedingt auch Better Call Saul schauen!“. Auch die Mathematiker und Physiker von Netflix schauen bei der Erstellung des Vorschlagssystems auf jene Serien, die wir bereits angeschaut haben (Jordano, L. (2017)). Der Algorithmus analysiert neben unseren zuletzt angeschauten Titel noch viele andere Daten. Zum Beispiel den Wochentag, die Uhrzeit oder wann und wie lange wir zuletzt eingeloggt waren.

Weil es genauso viele unterschiedliche Meinungen wie Menschen gibt, hat Netflix sich ganz besondere Marketing Strategien überlegt. Denn im Jahr 2018 kosteten die selbst erstellten Inhalte den Anbieter über 8 Millionen US Dollar (ca. 6.7 Millionen €). Damit die Zuschauer sich also zwischen den 700 neuen Netflix-Originalen schnell zurechtfinden, muss das Vorschlagssystem wahre Wunder leisten (Etherington, D. (2018), Wolk, A. (2018)).

Ganz offensichtlich scheint der Algorithmus zu agieren, wenn sich das Genre folgendermaßen nennt: „Weil Sie Stranger Things schauten, könnte Ihnen auch folgendes gefallen:“

Netflix Cover



Zusätzlich zu den computergestützten Algorithmen, führt Netflix deshalb auch regelmäßig Experimente durch. Durch die radikale Veränderungen der Navigationswege und dem Design wollen die Designer ein immer besseres Unterhaltungerleben generieren. Jedes neue Design wird getestet, indem man beobachten wie wir uns damit verhalten. Da es keine Befragungen gibt, nennt man das auch implizite Daten. Wenn du also alle Folgen von Unbreakable Kimmy Schmidt innerhalb von zwei Nächsten anschaust, dann implizieren die Marktforscher von Netflix, dass du es wohl gerne magst (Fanguy, W. (2018)).

Netflix Cover


Die Vorgehensweise ist dabei sehr einfach: bei den Studien werden die Zuschauer in mehrere Gruppen geteilt (bei Netflix auch Zellen genannt). Jede Gruppe bekommt ein anderes Titelbild angezeigt und das Verhalten wird aufgezeichnet. Alle Netflix-Zuschauer, die nicht am Experiment teilnehmen zählen zur Kontrollgruppe. Damit können die Forscher vergleichen, ob die neuen Design wirklich öfter oder schneller angeklickt werden.


Verschiedene Cover für die selbe Serie – so kann Netflix mit einem Produkt, viele verschiedene Zielgruppen ansprechen.

Entsteht im Design Studio ein neues Cover Bild, dann wird dieses durch sogenannte Multivariate Tests evaluiert. Multivariat bedeuted dabei einfach, dass mehr als eine Variable untersucht wird (ScienceDirect, 2018). Mögliche Variablen sind zum Beispiel die Farben oder die Ratio der Schrift zur Gesamtgröße. Aber es wird auch ausgewertet, wie häufig das Bild angesehen oder angeklickt wird (Fanguy, W., 2018)).




Menschen werden durch den Algorithmus nicht überflüssig

Die Innovationen, durch die Netflix noch mehr Zuschauer erreicht sind menschengemacht! Und auch die Algorithmen werden nicht nur durch die Ergebnisse der Experimente trainiert, sondern auch durch die Tatkraft der Mitarbeiter. Diese müssen jeden Film und jede Serie anschauen und davon jede Minute mit Tags versehen. Tag [tæɡ] wird vom englischen übersetzt als Markierung oder Kennzeichnung. Tags sind Metadaten, welche eine Sache näher beschreiben sollen, um sie z.B. bei einer Suche schneller wieder zu finden (W3School, 2018). Ohne den Menschen könnte der Algortihmus nur schwer erkennen, ob eine Szene zum Beispiel romantisch oder actionreich ist. Hier wird noch der menschliche Blick gefordert. Doch durch die minutiöse Vergabe von Kennwörtern kann der Algorithmus lernen, welche Serien wir mögen und weshalb (Plummer, L. (2017)).

Unsere Anforderungen an das Vorschlagssystem sind sehr hoch, denn die Vorschläge müssen präzise, aber gleichzeitig divers und neu sein. Dabei darf ein neuer Vorschlag trotzdem nicht so neuartig sein, dass er von unseren Interessen abweicht und zur kognitiven Dissonanz führt. Deshalb werden die Algorithmen auch zunehmend durch künstliche Intelligenz erweitert. Dadurch können in Zukunft immer neue Vorschläge gemacht werden, die unseren bisherigen Interessen entsprechen. Durch die Verknüpfung der Kennwörter und künstlicher Intelligenz sollen uns bereits nach ein paar Klicks die besten Titel vorgeschlagen werden (Son (2017)),

Obwohl heutzutage der Filmgeschmack fast so wichtig scheint, wie die Frage, welchen Namen die Kinder tragen sollen, sollte der falsche Film nicht euer Date ruinieren. Ein Filmabend zu zweit ist zwar romantisch und rund jeder zweite bekommt im Kino den ersten Kuss, aber Laut einer Umfrage sehen 71,5 % das Kino als perfekten Ort für das zweite Date (Lüning, 2018).


Der Ratschlag für das perfekte Date wäre also, dass ihr Euch im Gespräch kennenlernt und euren Filmgeschmack besprecht.

Durch die ausgefeilten Algorithmen wirst du nie wieder vor am Ende deiner Lieblingsserie stehen, sondern immer am Anfang einer Neuen. Welche dir dann genauso gut gefällt. So wie jeder von uns einzigartig ist, so ist auch kein Netflix Account gleich wie der andere. Man könnte sogar behaupten, dass das adaptive Vorschlagssystem uns einen Spiegel unserer Selbst präsentiert.



Bibliography

  • Beam, M. A. (2014). Automating the News: How Personalized News Recommender System Design Choices Impact News Reception, Communication Research 41(8): 1019- 1041
  • Beam, M., Kosicki, G. M. (2014). Personalized News Portal: Filtering Systems and Increased News Exposure, Journalism & Mass Communication Quarterly 91(1): 59- 77
  • Bock, G.W., Mahmood, M. Sharma, S., & Kang, Y.J. (2010). The Impact of Information Overload and Contribution Overload on continued Usage if Electronic Knowledge Repositories, Journal of Organizational Computing and Electronic Commerce, p. 257- 278
  • Chen, G., Gao, T., Thu, X., Tian, H., & Yang, Z. (2017). Personalized recommendation based on preferential biderectional mas diffusion. Physica A, p. 397- 404.
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  • Czernik, A., (2016), Was ist ein Algorithmus, Von Datenschutzbeauftragter
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  • Etherington, D. (2018), Netflix to have around 700 orignial movies and shows available in 2018, Von Techcrunch
  • Fanguy, W. (2018). How Netflix Designs With Flexibility. Von Invisionapp
  • Festinger, L. (1962), A Theory of cognitive Dissonance, Stanford University Press
  • Flirtuniversity (2018), Netflix and chill – was wirklich dahinter steckt, Von Flirtuniversity
  • Hallinan, B. & Striphas, T. (2016), Recommended for you: The Netflix Prize and the production of algorithm culture, new media & society Vol 18, p. 117 – 137
  • Jordano, L. (2017). Is Netflix the Evolution of Cognitive Search? Von KM WorldKM World
  • Lüning, A. (2018). Kino – ideal fürs zweite Date. Von Parship
  • Plummer, L. (2017). This is how Netflix’s top-secret recommendation system works. Von Wired
  • Rajibu, H., Kumar, J., Yi, L. (2018). Excessive use of online video streaming services: Impact of recommender system use, psychological factors, and motives, Computers in Human Behavior, Vol. 80, p.220- 228
  • ScienceDirect, (2018). Multivariate Analysis, von ScienceDirect
  • Son, J., Kim, S.B. (2017). Content-based filtering for recommendation system using multiattribute networks, Expert Systems With Applications 89(2917): 404- 412
  • Wolk, A. (2018) Netflix’s Dilemma: Marketing 700 New Original Series is a lot harder than making them. Von Forbes
  • W3School (2018), Tag Defintion and Usage, Von W3School